Nachruf Thomas Ohlemacher

Nachruf


Seine Leidenschaft galt der Soziologie – seine Liebe den Menschen.

Thomas Ohlemacher ist am 7. November 2015 nach zehn monatiger schwerer Erkrankung im Alter von nur 53 Jahren gestorben. Er hinterlässt seine Frau, seine drei Töchter, seine Eltern und weitere Verwandte. Wir fühlen uns verbunden mit ihnen in ihrer Trauer. Wir haben einen großartigen Kollegen, einen langjährigen Freund und Weggefährten verloren, der Kreis der empirischen Polizeiforschung zudem einen ihrer aktivsten und leidenschaftlichsten Protagonisten.

Thomas war ein großer, kritischer Geist, ein scharfsinniger Beobachter mit einer klaren politischen Haltung und er war eine Persönlichkeit mit weitem Herzen. Er war unbestechlich in seiner wissenschaftlichen Haltung, die er in Marburg, Hamburg, Berlin und Birmingham entwickelte. Nach seiner Mitarbeit am Wissenschaftszentrum in Berlin, seiner mehrjährigen Tätigkeit am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen und seiner Habilitation war er 2002 beruflich dort angekommen, wo ihn seine Forschungsarbeiten hinführten – bei der Polizei. Mit feinsinniger Ironie erzählte er über die ersten Zeiten als „PD“: Wenn der Name PD Dr. Ohlemacher auftauchte, glaubten einige Polizisten, er sei tatsächlich promovierter „Polizeidirektor“ und nicht „Privatdozent“. Er ließ sich von der kulturellen Verschiedenheit zwischen seiner eigenen Profession und der Polizei nicht schrecken, im Gegenteil, er machte diese nutzbar. Er vermochte es, Grenzen zu überwinden, Vorbehalte abzubauen und Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die sich vorher nicht viel zu sagen hatten.

Das liebten wir so an ihm: Seine Empathie, wenn es um die Menschen ging, seine rationale Klarheit, seine kritischen Beobachtungen und seine erhellenden Analysen, wenn es um das ihm so vertraute ‚Alltagsgeschäft Wissenschaft‘ ging. Wohltuend unbestechlich, auch unangenehme Fragen verfolgend und gleichzeitig leidenschaftlich engagiert, das würde vielleicht am besten sein Wirken in der Polizeiforschung beschreiben. Antidogmatisch, zugewandt und inspirierend für Kollegen und Kolleginnen, den wissenschaftlichen und den polizeilichen Nachwuchs, das würde es auch treffen. Thomas hatte immer diese wunderbare Lässigkeit, mit der er dem zuweilen anstrengenden Gehabe im Wissenschaftskontext die bodenständige Frage nach dem Substanziellen, nach dem eigentlich Relevanten entgegensetzte.

Wie kein Zweiter hat er den kleinen Pfad der „Empirischen Polizeiforschung“ geprägt und mitgestaltet. Wer mit ihm in einem Forschungsprojekt zusammenarbeitete, lernte ihn als wohlwollenden und unterstützenden Begleiter des Professionalisierungsprozesses derjenigen kennen, die neu im Geschäft Wissenschaft waren. Er schaffte es, in seinen Teams ein Klima des konzentrierten Arbeitens an einer gemeinsamen Sache zu erzeugen und mit seiner Leidenschaft und seinem Engagement andere ‚anzustecken‘.

Er kannte die Arenen der wissenschaftlichen und bürokratischen Eitelkeit und liebte es, sie zu beobachten und zu analysieren, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Er blieb immer ein Brückenbauer, der sowohl auf Seiten der Wissenschaft anerkannt und mit seinem Rat geschätzt war, als auch auf Seiten der Polizeipraxis als einer wahrgenommen wurde, der verlässlich war und wusste, wie Polizei funktioniert. Er fühlte sich dort wohl, wo er Resonanz für wissenschaftliche Erkenntnisse erzeugen konnte. Auch privat war er angekommen und hatte zum Schluss alles, was ihm bedeutsam war: seine geliebte Familie in Göttingen, ein freundschaftliches nachbarschaftliches Umfeld, seinen großen Freundeskreis, seine Kollegen und Kolleginnen, „seine“ Lehre in Hannoversch-Münden und in Hildesheim. Er konnte umstandslos zwischen Polizeiakademie und Universität pendeln und hatte doch einen festen spirituellen Ort. Er hatte und er gab Halt. Es hatte gerade die Zeit begonnen, in der er die Ernte seiner langen wissenschaftlichen und menschlichen Wirkens einfahren konnte.

Die Eheleute haben wechselseitig Bezug auf ihre Berufe genommen und sich in ihrem beruflichen Tun geschätzt, sehr zum Wohl der beiden Professionen. Die Kinder gingen von beiden Eltern gut begleitet die ersten Schritte in die Welt. Plötzlich und unerwartet brach das Glück an einem Tag zusammen, der Fall ins Bodenlose und der Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit begannen. Seine Erkrankung veränderte sein Inneres und die Welt um ihn herum so radikal, dass nach zehn Monaten seine Kraft aufgebraucht war. Er starb umgeben von denen, die ihn am meisten liebten.

Im Trauergottesdienst am 16.11. in der Kirche St. Petri in Göttingen-Weende wurde Thomas vom Pastor – die Perspektive seiner ehemaligen Schulkameraden wiedergebend – als ‚geerdeter Überflieger‘ bezeichnet, der den intellektuellen Diskurs liebte und sich mit Verve an ihm beteiligte und trotzdem nie die Bodenhaftung verlor. So haben auch wir ihn erlebt: ihm gelang es, die Perspektive des jeweils anderen zu verstehen und er konnte gerade deswegen Verständnis für wissenschaftliche Sichtweisen zeigen, die nicht notwendigerweise seine eigenen waren.

Wir bleiben erschüttert und traurig zurück, aber bereichert um all die Ideen, Erkenntnisse und Gespräche, die wir Thomas verdanken. Wir verneigen uns vor einem großartigen, inspirierenden, im besten Sinne des Wortes eigenwilligen Kollegen und einem warmherzigen Menschen.

Adieu, Thomas!]